Verein Münchner Sportjournalisten
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2016/17

1. Preis

Der Wohlfühlspieler

Über den Schmerz zum Kampf und zur Freiheit auf dem Feld: Franck Ribéry ist stolz auf sein Lebenswerk als Weltklasse-Straßenkicker. Manche FC-Bayern-Trainer verstanden, wie er tickt – manche nicht.

 

                                         VON BENEDIKT WARMBRUNN

 

  An dem Tag, an dem er endgültig nicht mehr weiter wusste, dachte Cédric Vanoukia an einen, der schon oft die Aussichtslosigkeit überwunden hatte. Vanoukia hatte Probleme mit dem Herzen, eine komplizierte Geschichte, und er, ein Fußballer in der vierten fran-

zösischen Liga, hatte kein Geld. Es zu leihen, dazu war er zu stolz, aber ein paar lustige Stunden, das konnte nicht schaden. Also rief er den Bekannten an. Reiste nach Mün-

chen. Verbrachte Stunden mit ihm. Lustig waren sie nicht. „Frérot“, fragte irgendwann Franck Ribéry, der im Leben nie die Hoffnung verloren hatte, „warum bist du nicht lustig?“

  Vanoukia erzählte – vom Schmerz, vom fehlenden Geld, von der Verzweiflung. Danach telefonierte Ribéry. Organisierte, dass Vanoukia behandelt wurde. Organisierte, dass der Viertligaspieler mit ihm, dem Nationalspieler, beim FC Bayern trainieren durfte. Zahlte alles. Eine Woche später kehrte Vanoukia zurück zu seinem Klub US Quevilly. Er und Ribéry, sein Frérot, sein Brüderchen, sprachen nie darüber, dass er als Kranker gekom-

men und als Gesunder gegangen war.

 

"Ich vergesse nie, wer ich bin und woher ich komme"

 

  Dies ist eine Geschichte über einen Kämpfer. Eine Geschichte darüber, wie oft einer ge-

kämpft haben muss, bevor er selbst entscheidet, was ein gerechter Kampf ist, und was nicht.

  Ein Vormittag kurz vor Weihnachten, das Vereinsgelände des FC Bayern. Franck Ribéry schlurft in den Raum, grelloranges T-Shirt, blaue Jogginghose, weiße Socken in Bade-

latschen. Er, der auf dem Rasen so dynamisch ist, wirkt an diesem Vormittag zierlich. Als er sich in den Sessel fallen lässt, sieht es kurz so aus, als würde ihn dieser gleich ver-

schlucken. Ribéry drückt sich hoch, Ellbogen auf die Knie. Er sagt: „Ich vergesse nie, wer ich bin und wo ich herkomme. Jetzt bin ich sehr glücklich, aber dafür musste ich viel kämpfen, jahrelang. Ich will immer mehr, mehr, mehr. Aber ich darf nie vergessen, wie ich als Junge auf der Straße war.“

  Am kommenden Dienstag reist Ribéry nach Katar, er bereitet sich dort mit den Bayern zum zehnten Mal auf eine Rückrunde vor, es könnte seine vorletzte sein, 2018 endet sein Vertrag. 33 Jahre ist er alt, aber es stimmt: Eigentlich ist er noch ein Junge. Für die Fans des FC Bayern ist er deshalb einer der beliebtesten Spieler der Vereinsgeschichte, einer, der nur an Tricks und Streiche denkt. Für viele andere ist er ein begabter Flügeldribbler, aber auch einer, der aufbrausend ist, unreif. In Frankreich, seiner Heimat, zählt er zu den unbeliebtesten Sportlern.

  „Schon früher war zu spüren, dass er beides braucht: geliebt zu werden und falsch ein-

geschätzt zu werden“, sagt sein Freund Cédric Vanoukia. Der Verteidiger lernte Ribéry kennen, als beide für Brest spielten, in der dritten Liga. Ribéry war 20 Jahre alt, Vanoukia ein Jahr älter. „Schon damals war er ein unangenehmer Gegenspieler, du wusstest nie, was er im nächsten Moment machen würde“, erinnert sich Vanoukia, mittlerweile Jugend-

trainer in Rennes. „Und da war dieser wahnsinnige Ehrgeiz, in jedem Spiel, in jeder Minute, in jedem Dribbling. Er wollte jede noch so kleine Szene gewinnen.“ Damals war es Ribéry, der vom Schmerz erzählte, vom fehlenden Geld, von der Verzweiflung. Von dem Autounfall, der ihn als Zweijährigen im Gesicht entstellt hatte; die anderen Kinder nannten ihn „Frankenstein“. Dass er vom Internat geflogen war. Dass er mit seinem Vater als Straßenarbeiter geschuftet hatte.

 

Vom Internat geflogen, als Straßenarbeiter geschuftet

 

  „Er hatte so viele schmerzhafte Erfahrungen“, sagt Vanoukia, „das habe ich an ihm immer bewundert: All der Schmerz hat es nicht geschafft, ihn kaputtzumachen.“ Am Ende der Saison hatte Ribéry seinen Traum erfüllt: Er wechselte in die erste Liga, nach Metz.

  Vanoukia schaffte es nie nach ganz oben, er spielte sechsmal für Guadeloupe, und aus der Ferne beobachtete er, wie sein Freund berühmt wurde. „Wenn wir uns gesehen haben, war ich immer erst schüchtern. Ich wusste nie, ob ich noch frech sein durfte. Aber Franck hat immer gesagt: ,Frérot, was ist los? Ich bin es!‘ Er hat sich mir gegenüber nie verändert.“ Besonders hoch rechnete Vanoukia es seinem Freund an, dass ihm dieser 2012, als er die Probleme am Herzen hatte, ohne große Geste half. „Alles, was ich seitdem habe, habe ich dank Franck.“ Ribéry sagt: „Egal, wer du bist, du bist nichts, wenn du nicht für deine Freun-

de und deine Familie da bist.“

  Dass sich Ribéry nicht verändert hat, sehen nicht alle so positiv wie Vanoukia. Manche Wegbegleiter reden nur, wenn sie nicht zitiert werden. Sie berichten von einem Ribéry, der stur ist, kindisch, eingeschnappt, wenn ihn jemand nicht so behandelt, wie er behandelt werden will. Nach der WM 2010, bei der er einer der Anführer in der Revolution gegen Nationaltrainer Raymond Domenech war, brach er auch zu engen Bekannten den Kontakt ab, allein aus dem Grund, dass sie Franzosen waren. Die Franzosen mochten ihn nicht mehr, also mochte Ribéry in seinem Leben nur noch wenige Franzosen.

  Als er dagegen 2007 nach Deutschland gekommen war, war er überrascht, wie freund-

lich alle waren. Die Franzosen sahen in ihm den Nachfolger von Zinédine Zidane, den-

noch machten sie Witze über seine Aussprache, über seine Grammatik. In München fin-

den sie gerade die kleinen Fehler drollig, zum Beispiel, wie Ribéry nach dem verlorenen Champions-League-Finale 2012 auf dem Rathausbalkon den Fans zurief: „Isch abe ge-

macht funf Jahre mehr.“ In München flog ihm zum ersten Mal die Anerkennung zu. Zum ersten Mal spürte er, dass das Leben nicht immer ein Kampf sein muss.

 

Hitzfeld: "Franck brauch Nestwärme"

 

  Ribérys erster Trainer in Deutschland war Ottmar Hitzfeld, einer, der ähnlich wie der aktuelle Bayern-Coach Carlo Ancelotti taktisch nicht so viel vorgibt, der stattdessen darauf achtet, dass alle eines spüren: Anerkennung. In der ersten Woche damals bat Hitzfeld Ribéry zum Gespräch, sie redeten über alles, nur über Fußball nicht. „Er war ziemlich überrascht, dass ich ihn als Menschen kennenlernen wollte“, erinnert sich Hitzfeld, „ich habe bald gemerkt, dass Franck Nestwärme braucht, dass er besser spielt, wenn er sich wohlfühlt.“

  Ein Jahr lang hat Hitzfeld mit Ribéry zusammengearbeitet, in 46 Partien erzielte er 19 Tore, 20 weitere bereitete er vor; unter keinem anderen Trainer war er effektiver. „Es gibt Spieler, die wollen auf der menschlichen Seite angesprochen werden. Sie wollen nicht nur eine Figur sein, die vom Trainer auf dem Schachbrett herumgeschoben wird“, sagt Hitzfeld. „Wenn das auf einen Spieler besonders zutrifft, dann ist das für mich Franck. Wer seine Geschichte kennt, weiß, dass er sich seine Freiheit erkämpft hat. Wenn man ihm diese Freiheit lässt, ist er zu ungeahnten Dingen fähig. Er gibt dann alles für dich, alles für die Mannschaft. Und das nur, weil du ihn respektierst.“

Kämpfe, die Ribéry als Profi führte, führte er meist mit Trainern, die ihn nicht so aner-

kannten, wie er sich selbst sieht. Mit Louis van Gaal, der so viel Achtung vor sich selbst hat, dass für die Spieler nicht viel übrig bleibt. Mit Domenech, dem Intellektuellenkopf, mit dem Ribéry keine gemeinsame Sprache fand; er fühlte sich als Junge der Straße nicht ernst genommen. Und mit Pep Guardiola, der das Spielfeld als ein Schachbrett sieht, der Ribéry als Zehner aufstellen wollte.

  Das Einzige, was Ribéry von dieser Idee verstand, war, dass er weniger Freiheit haben sollte.

 

Straßenfußballer müssen überzeugt werden

 

  „Franck Ribéry ist ein Wohlfühlspieler“, sagt auch Jupp Heynckes, „wenn er das pas-

sende Umfeld hat, ist er absolute Weltklasse.“ In den zwei Jahren unter dem Bayern-Trainer Heynckes hat Ribéry die größten Erfolge seiner Karriere gefeiert, er gewann 2013 die Champions League, wurde Europas Fußballer des Jahres und ein halbes Jahr später Dritter bei der Wahl zum Weltfußballer – der größte individuelle Erfolg für einen Spieler, der nicht Lionel Messi oder Cristiano Ronaldo heißt.

  Wie Hitzfeld oder Ancelotti war Heynckes ein Trainer, der viel auf die Spieler hört; es ist kein Zufall, dass Ribéry die drei nennt, wenn er die wichtigsten Trainer seiner Karriere aufzählen soll. Heynckes sagt: „So wie man Franck gegenübertritt, so reagiert er.“ Das sei dessen „Herkunft zuzuschreiben – Franck merkt, ob einem einer was vormacht. Straßen-

fußballer sind Menschen, die du überzeugen musst, dass ihnen etwas langfristig hilft, auch wenn es erst einmal keinen Spaß macht.“

  Heynckes sagt, er habe zunächst Ribérys Defizite angesprochen, unter ihm habe dieser gelernt, „professionell zu arbeiten“. Lebensführung, Schlaf, Ernährung, Regeneration, alles habe er umgestellt. Unter Heynckes spielte Ribéry 97 Mal – 13 Mal häufiger als unter Guar-

diola, obwohl dieser ihn ein gutes Jahr länger betreut hatte. Nachdem der Franzose 2013 zu Europas Fußballer des Jahres gewählt worden war, rief er Heynckes an, um sich zu bedanken. Er hatte verstanden, dass der Kampf gegen die eigene Undiszipliniertheit ein gerechtfertigter gewesen war.

 

Unbändiger Wille, enormes Gerechtigkeitsbewusstsein

 

  Wenn Vanoukia, Hitzfeld oder Heynckes erklären sollen, warum Ribéry so erfolgreich wurde, dann reden sie nicht über seine Tricks, nicht über seine Dribblings, überhaupt reden sie nicht über sein fußballerisches Talent. Vanoukia sagt: „Dass aus unserer Mannschaft von 2003 Franck am weitesten gekommen ist, liegt wohl auch daran, dass er damals schon von weit unten gekommen war.“

  Hitzfeld sagt: „Man spürt bei ihm einen unbändigen Willen. Es steckt nach wie vor in ihm drin, sich aus etwas herauskämpfen zu müssen.“ Heynckes sagt: „Ihn treibt ein enormes Gerechtigkeitsbewusstsein an. Er gibt aber selbst die Kriterien vor, was gerecht ist, und was nicht.“ Laut Heynckes führt das zum Streben nach dem, was unerreichbar erscheint. Es führt aber auch dazu, dass er sich mitunter provozieren lässt. „Das Wilde, das in ihm steckt, kommt immer dann zum Vorschein, wenn er müde, unwirsch oder unzufrieden ist“, sagt Heynckes, „dann erkennt man den Straßenkämpfer, den er eigentlich in seiner Jugend schon bewältigt hat.“

  Tief in seinem Münchner Sessel erzählt Ribéry von Boulogne-sur-Mer, seiner Heimat-

stadt. Er erzählt, dass er seinen Eltern ein Haus hat bauen lassen, nicht weit von seinem früheren Zuhause. Ribéry lebt immer noch in einer kleinen Welt, auch als Großgrund-

besitzer. Wie er es sich selbst erklärt, dass er es aus dem Ghetto nach Grünwald ge-

schafft hat? „Ich hatte eine gute Erziehung. Ich war stark im Kopf. Wenn ich etwas will, das ich nicht habe, dann versuche ich alles. Dann kämpfe ich. Das ist mein Charakter.“

  Seit er nicht mehr für die Nationalelf spielt, seit 2014, ist Ribéry selten in Frankreich und wenn, dann in Boulogne. Manchmal zeigt er dann seinen drei Kindern, wo die Eltern das erste Date hatten, wo der Vater Fußball spielte, wo er sich versteckt hat, wenn er mal wieder nicht da war, wo er sein sollte. „Jeder Tag“, sagt er dann, „war schwierig.“ Dass er jetzt noch eineinhalb Jahre als Spieler des FC Bayern vor sich hat, dass er ein siebtes, vielleicht ein achtes Mal deutscher Meister werden könnte, dass er ein zweites Mal die Champions League gewinnen könnte: schön.

 

"Ribéry ist der Beste"

 

  Dass er aber seinen Kinder das Leben fern des Ghettos ermöglicht hat, dass sie besser Deutsch sprechen als er, das ist für ihn, den Jungen von der Straße, der in der Aussichts-

losigkeit aufwuchs, der größte Erfolg überhaupt. „Ich bin stolz auf das, was ich gemacht habe“, sagt er. „Das ist mein Traum, den ich als Junge nie zu träumen gewagt habe.“

  Schon immer, sagt Ribéry, sei es ihm egal gewesen, was andere denken; auch dass manche behaupten, dass er mit diesem Traumleben nicht zurechtkomme, störe ihn nicht, er könne damit umgehen, selbst mit der Abneigung der Franzosen. Dann spuckt ihn der Sessel aus, Ribéry schlurft aus dem Raum, im Weggehen sagt er: „Schreib: Ribéry ist der Beste.“

  Er dreht sich noch einmal um. „Ja?“

2. Preis

"Die Zeit im Ring gibt mir etwas                                 von der Normalität zurück"

Kugelstoßerin Kober über die Paralympics in Rio, ihre Chancen auf eineMedaille, finanzielle Schwierigkeiten – und tote Igel in der Sandgrube

 

 

                                         VON FLORIAN AUBURGER

  Frau Kober, wie kommt man auf die Idee, sich mit einem Rollstuhl vor eine Straßen-

bahn zu stellen?

  Birgit Kober: (lacht) Sie haben das also mitbekommen.

  Sie legten vergangenen Sommer so den Verkehr lahm.

  Ich kam mit meinem Rollstuhl-Segway (elektrisches Einpersonen-Transportmittel mit Sitz, Anm. d. Red.) vom Olympia-Stützpunkt. Ich darf aufgrund meiner Epilepsie ja nicht Autofahren. Ich stand an der Tramhaltestelle am Hauptbahnhof, es war kalt und es reg-

nete in Strömen. Es war bis zu diesem Zeitpunkt kein Problem, mit der Tram, Bus oder U-Bahn zu fahren. An diesem Tag wollte mich aber kein Tramfahrer mitnehmen, jeder hat abgewunken.

 Wieso?

  Fahrer haben mir gesagt, es gebe eine neue Dienstvorschrift. Ich sei mit meinem Seg-

way eine Gefahr bei unerwarteten Bremsungen. Ich hatte die Hoffnung, dass mich wenig-

stens ein Fahrer mitnimmt. Nach einer Stunde Warten war ich durchnässt und verzwei-

felt.

  Wie lang standen Sie da?

  So 40 Minuten. Irgendwann kam die Polizei.

  Und wie waren die Reaktionen?

 

Shitstorm im Internet

 

  Gemischt. Einige Fahrgäste haben mich beschimpft. Einer hat mich sogar so geschüt-

elt, dass ich mir den Rücken verrenkt habe. Später wurde dann ein Shitstorm im Internet gegen mich losgetreten. Manche Menschen verstehen das nicht, das macht mich traurig. Mein Weg zum Stützpunkt ist einfach schwer mit einem normalen Rollstuhl.

 Wie hat sich die Aktion aufgelöst?

 Irgendwann bin ich weggefahren. Der MVV hat mir mit einer Anzeige gedroht. Es gab letztlich aber keine, weil man wahrscheinlich vermutete, dass das sonst noch mehr Auf-

sehen erregen würde. Einige Fahrer kamen später auf mich zu, die können ja nichts da-

für. Da haben sich jetzt sehr nette Bekanntschaften entwickelt.

  Ihr Weg zum Olympia-Stützpunkt ist weit. Gibt es keine nähere Trainingsmöglichkeit?

  Doch, die Bezirkssportanlage bei mir um die Ecke. Da bin ich oft. Die Bedingungen dort sind aber nicht gut. Der Ring ist katastrophal. Und auch die Sandgrube. Dort musste ich bereits mehrere tote Tiere begraben. Das ist wie ein kleines Biotop. Einmal habe ich ei-

nen Igel begraben, der mit den Füßen nach oben da lag, und letztens eine Spitzmaus. Wegschmeißen wollte ich die Tiere nicht. Ich habe jetzt schon immer ein Desinfektions-

spray dabei. Nicht dass ich auch irgendwann mit den Füßen nach oben da liege. (lacht)

  Heute beginnen die Paralympics in Rio de Janeiro. Sie werden dort im Kugelstoßen starten. Wie groß ist die Vorfreude?

  Riesig! Blöd ist nur, dass mir meine Kamera kaputt gegangen ist und ich mir jetzt eine neue holen musste. Ohne wollte ich nicht nach Rio fahren.

  Warum?

  Ich fotografiere sehr gern, vor allem Menschen. Mich fasziniert das Zwischenmenschli-

che im Sport. Szenen der Freude, aber auch der Trauer. Das will ich in Rio festhalten. Ich war ja schon im Januar dort. Ich würde jedem empfehlen, nach Rio zu reisen, die Men-

schen dort sind einfach herzlich.

  Herzlicher als hier?

  Anders. Sie sind so unvoreingenommen. Wildfremde Leute haben mich dort am Abend in ihre Wohnung eingeladen und spontan gesagt: Komm, wir nehmen uns morgen frei und zeigen dir unsere Stadt. Dazu kommt die Hilfsbereitschaft. Die Menschen dort sind so ehrlich nett – und wollen auch nichts fürs Nett-Sein haben.

 

Aus dem Rollstuhl in den Stand

 

  Wie sehen Sie Ihre Medaillenchancen?

  Silber ist möglich. Nach den Olympischen Spielen in London habe ich mich umklassifi-

zieren lassen, weil eine Regeländerung vorgesehen hätte, dass meine Beine beim Wett-

kampf an einen Stuhl festgezurrt werden. Das wollte ich nicht. Und in den letzten Jahren habe ich gelernt, ein paar wacklige Schritte zu gehen. Daher starte ich in Rio im Stehen.

  Was halten Sie vom Ausschluss Russlands?

  Es ist bewiesen, dass es systematisches Staatsdoping war. Und so ein System zu be-

strafen, ist richtig. Jetzt kommt das Aber: Wenn Sie kein Bild vor Augen haben, von irgendeinem Sportler aus Russland, dann ist das alles nicht tragisch. Sobald Sie aber in die Gesichter der Athleten sehen, die ausgeschlossen wurden, dann wird es schlimm. Und das tut mir leid. Weil diese Athleten in diesem System zerschreddert werden. Das ist ein Sport, den ich so nicht haben will. Es ist kein Tag zum Feiern.

  Ein anderes Problem sind die Finanzen, die Mittel wurden gekürzt.

  So kurz vor den Paralympics so eine Nachricht, das ist traurig. Es wäre schade, wenn unsere Spiele nur in einer abgespeckten Version stattfinden würden. Und dass eventuell ein paar Länder gar nicht kommen, das widerstrebt dem olympischen Gedanken.

  Können Sie Sich als Athletin denn finanziell über Wasser halten?

  Ich bekomme normale Sporthilfe und habe das Glück, im Moment noch im Top-Team zu sein. Das kann sich nach Rio aber wieder ändern. Im Herbst wechsle ich vom TSV Bayer 04 Leverkusen zum TSV 1860 München. Die Sportstiftung von NRW wird dann wegfal-

len. Das wird ein Loch reinreißen. Mal sehen, ob ich das deckeln kann. Ich schaue gera-

de, dass ich in einem Job unterkomme.

 

Probleme bei der Suche nach einem Arbeitsplatz

 

  Ist es schwer für Sie, einen Job zu finden?

  Manchmal sage ich nicht, dass ich im Rollstuhl sitze. Werde ich dann zum Vorstellungs-

gespräch eingeladen, haben die Leute noch Interesse. Sehen sie mich dann aber, kom-

men die Ausreden. Ich könnte kotzen.

  Wie reagieren Sie auf die Ausreden?

  Gar nicht. Ich sage Danke und verabschiede mich. Irgendwann – ganz ehrlich – nach dem sechsten, siebten, achten Mal hat man ein Frustrationslevel erreicht, bei dem man sagt: Ich mag jetzt nicht mehr!

  2007 brachte Sie ein Behandlungsfehler in den Rollstuhl. Haben Sie noch viele Ge-

danken daran?

  Ich schließe immer ein Stückchen mehr ab. Über manche körperlichen Grenzen, die ich habe, werde ich nie wieder rüberkommen. In London bin ich im Sitzen gestartet, in Rio starte ich im Stehen. Dass ich wieder im Stehen starten kann, bedeutet mir viel. Es ist schwer, aber in diesen Minuten kann ich über mich hinauswachsen. Diese Zeit im Ring gibt mir was von dem Menschen zurück, der ich früher war, und von dieser Normalität, die ich früher einmal hatte. Wenn die Kugel dann weit fliegt, ist es immer ein Triumph über mich selbst. Das hilft mir, wieder ein Stückchen mehr Frieden mit meinem Schicksal zu schließen.

3. Preis

Tänzer im eigenen Traum

Savio Nsereko war mal ein Versprehen des deutschen Fußball, dann verlor sich der

Münchner

 

                                                VON SEBASTIAN FISCHER

  Die Stutzen hatte er immer noch über die Knie gezogen, wie früher. Er trug gelbe Schu-

he, ein weißes Tapeband zierte sein linkes Handgelenk. Er trabte auf den Platz, und sei-

ne zweite Aktion war gleich ein Übersteiger, geschmeidig ließ er seinen rechten Fuß um den Ball kreisen. Der Spieler mit der Nummer neun wollte auffallen, das zeigten die Live-

bilder vom vergangenen Donnerstagabend, an dem in einem kleinen Stadion in Kaunas 300 Men- schen dabei zuschauten, wie der FK Lietava Jona- va, Aufsteiger in die erste litauische Fußballliga, 2:2 gegen Kauno Zalgiris spielte. Die Begegnung ist keine, von der noch lange gesprochen werden wird. Eine besondere war sie trotzdem, wegen der Num- mer neun. Savio stand in weißem Flock darüber. Savio, das klingt noch immer nach Kunst, nach einem Versprechen.

 

Was alles schief gehen kann...

 

  Savio Nsereko, 26, aus München war das einmal: ein Versprechen des deutschen Fuß-

balls. Elf Millio- onen soll der Premier-League-Klub West Ham Uni- ted 2009 für ihn be-

zahlt haben. Doch der Name Nsereko ist inzwischen ein Synonym dafür, was alles schief gehen kann im Leben eines talentierten Sportlers, der plötzlich mit Ruhm und Geld und Druck klar kommen muss. Nsereko, sagt Jonavas Sportdirektor Aironas Morkunas, sei ein großartiger Fußballer. Und seine Verpflichtung, sagt er am Freitag - drei Tage nach Nserekos Unterschrift und einen Tag nach Nserekos erstem Spiel - immer wieder ins Telefon, „ist eine Chance“.

  Natürlich habe er all die Geschichten im Internet ge- lesen, sagt Morkunas. Von ver-

prasstem Reichtum, Privatjetflügen nach Florida zum Geburtstag und ständigen Ver-

einswechseln, die Nsereko im Sommer 2010 zu 1860 München führten und von da im- mer weiter abwärts. Ja, auch die Geschichte vom Verschwinden 2012 beim Drittligisten SpVgg Unterhaching kenne er. Damals soll Nsereko aus Geldnot seine Entführung vor-

getäuscht haben. Er hatte sich nach Thailand abgesetzt. Eine SMS sei falsch verstan- standen worden, erklärte er.

 

Wie früher Kevin Keegan

 

  Junioren-Nationaltrainer Horst Hrubesch hat über seinen einstigen Auswahlspieler Nsereko mal ge sagt: „Der Junge hat alles, eine ausgefeilte Technik und Schnelligkeit. Er ist ein kompletter Spieler, wie früher Kevin Keegan.“ Doch Nsereko ist nie ein Keegan geworden, sondern immer das Versprechen geblieben. Stutzen hoch, bunte Schuhe an, Über- steiger, wie ein Tänzer in seinem eigenen Traum, taub für jeden Ratschlag. Sein Talent glänzte in jeder seiner Bewegungen, doch immer nur für einen Moment.

  „Seine Technik ist wunderschön“, sagt Aironas Morkunas, der Sportdirektor in Litauen. Er schwärmt von Nserekos erstem Spiel am Donnerstag, zur Halbzeit war er eingewech-

selt worden, ins zentrale Mittelfeld, bald soll er Stürmer spielen. Es sei eine Chance für seinen Verein, so einen Spieler unter Vertrag zu haben, sagt er, ja: für ganz Jonava, eine Kleinstadt östlich von Kaunas. Und es sei eine Chance für Nsereko. Er brauche nur noch ein paar Wochen, sagt Morkunas. Seit Juli 2015 war Nsereko ohne Verein und nicht im Training. „Mir ist damals alles zu Kopf gestiegen. Ich war jung, hatte viel Geld und gleich-

zeitig viel Druck“, hat Nsereko zu den Geschichten aus der Zeit bei West Ham United - Autos, Klamotten, Frauen - bei einem Treffen in Köln 2013 gesagt, wo er sich beim Viert-

ligisten Viktoria versuchte.

  Damals beteuerte er, aus seinen Fehlern gelernt zu haben, und wirkte gar nicht wie der Großkotz aus den Schlagzeilen, sondern eher wie ein schüchterner junger Mann, der wie ferngesteuert durchs Leben geht. Ein paar Wochen später soll er einem Mitspie- spieler eine Uhr gestohlen haben, wieder war von Schulden die Rede. Er musste den Verein verlassen.

  Gesagt hat Nsereko seitdem öffentlich nichts mehr, aus dem Kreis seiner früheren Bera-

ter hieß es, man wisse nicht so genau, wo er sei. Im Herbst 2014 spielte er für ein halbes Jahr in Kasachstan und schoss nach langer Zeit mal wieder ein Tor. Im Früh- jahr 2015 lief er für vier Monate beim bulgarischen Erstligisten PFC Beroe auf, zehn Spiele und kein Tor. Dazwischen war er immer wieder vereinslos. Der Vertrag in Jonava läuft für ein Jahr, plus ein Jahr Option. Nsereko geht nicht ans Telefon, doch Morku- nas sagt, er mache einen glücklichen Eindruck.

  Nsereko sei zuletzt in München gewesen, sie hätten viel telefoniert, sagt der Sportdirek-

tor. Nun hat Nse- reko ein Appartement zur Miete in Kaunas. Hier trägt der Klub im Win-

ter seine Heimspiele aus, auf Kunstrasen. Ein paar Fans jubelten bei seiner Einwechs- lung am Donnerstag. Er zupfte sein Trikot zurecht, berührte den Rasen mit den Finger-

spitzen, malte ein Kreuz auf seine Brust. Dann lief er los, voller Hoffnung, wie früher.

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Von Wolfgang Uhrig

"Thailand unter der Haut"

Bernd Linnhoff, geboren 1948 in Hamm/Westfalen, arbeitete als Chefreporter Fußball beim Sportinformationsdienst (SID) und bei der Deutschen Presse-Agentur (dpa). 1988 machte er sich als freier Journalist, Kom-munikationsberater und Reden-schreiber selbstständig. Linnhoff wanderte 2008 nach Thailand aus. Er lebte vier Jahre in Bankok und wohnt seit 2012 in Chiang Mai

Linnhoff über sein Buch: „In „Thailand unter der Haut“ erzähle ich in 31 Nahaufnahmen von Thailands Ess-Klasse, der Fuß-ball-Community der German All Stars, von Männern in Bangkoks Nächten, von Frauen auch und davon, wie ich schlank wurde auf dem Rücksitz eines Motorrad-taxis. Es geht um Geister, den Zusammenprall zweier Kulturen in meiner Ehe mit Toey, um thailän-dische Spitznamen („Gestatten, mein Name ist Frankfurt“) und vieles mehr. Ich verschweige nicht einmal, dass ich hier lung genannt werde, alter Onkel.“

„Thailand unter der Haut“ ist 240 Seiten stark und kostet 14,90 Euro plus Versandkosten. Es ist im Onlineshop meines Verlegers Oliver Wurm unter folgendem Link erhältlich: www.fussballgold.de

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