Verein Münchner Sportjournalisten
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Prämierte Texte 2015

1. Preis

Warum warten?

Jung, talentiert, unzufrieden: Pierre-Emile Hojberg sucht nach Stabilität als Fußballer und in seinem Leben

Benedikt Warmbrunn, Bürgermeisterin Christine Strobl, Jury-Vorsitzender Hans Eiberle (v. l.)

    VON BENEDIKT WARMBRUNN

 

Ein weiterer Tag im südspanischen Sommer war zu Ende gegangen, die ganze Familie saß nun am Tisch, die Mutter, der Bruder, die Schwester, und Pierre-Emile Hojbjerg, der zweite Sohn; er dachte, dass er nie wieder so traurig sein könnte. Er täuschte sich.

 

Dies ist eine Geschichte über Zeit. Über die Zeit, die war. Über die Zeit, die kommt. Über die Zeit, die ungenutzt vergeht.

 

Ein düsterer Dezembermittag in München, ein Interviewzimmer des FC Bayern München. Pierre-Emile Hojbjerg, weiter schwarzer Mantel, weite schwarze Hose, weites weißes T-Shirt, lässt sich auf ein Sofa fallen. Er sagt, er könne leider nur eine halbe Stunde lang reden, dann müsse er weiter, Fahrstunde. Die Theorieprüfung hat Hojbjerg vor wenigen Wochen knapp bestanden, er glaubt, dass er noch vor Weihnachten die praktische machen kann. Wird auch Zeit. Seit sieben Monaten sitzt er im Fahrschulauto. Außerdem weiß er nicht, ob er nächstes Jahr weiter in München wohnen wird.

 

Hojbjerg, 19, hat vor wenigen Wochen etwas gesagt, was unter dem Trainer Pep Guar-

diola so selten ist, dass es wie ein Aufstand war. Hojbjerg sagte, dass er unzufrieden sei. Dass er zu wenig spiele. Und dass er über einen Wechsel nachdenke.

War das Größenwahn?

Es gab in den vergangenen Jahren einige junge Spieler, die den Weg gegangen sind, den Hojbjerg gerne gehen würde. Die verliehen wurden und stärker zum FC Bayern zurückkamen. David Alaba, Toni Kroos, auch Philipp Lahm. Dennoch verstanden nicht viele im Verein Hojbjergs Wunsch. Der jüngste Bundesliga-Debutant der Vereinsge-

schichte (17 Jahre, 251 Tage), der erste Profispieler aus dem eigenen Nachwuchs seit mehreren Jahren – der will weg? War das Größenwahn?

 

Das gehört zu mir: dass ich sehr selbstbewusst bin“, sagt Hojbjerg auf dem Sofa, „man-

che sagen: Du bist 19, halt die Klappe, du musst Gas geben! Aber ich finde, du darfst dennoch was denken und daran glauben.“

 

An eines will er nicht glauben: dass er nur geduldig sein muss. „Wenn du bereit für die Herausforderung bist, warum sollst du dann warten? Warum sollst du dasitzen und sa-

gen: Geht auch in zwei Jahren?“

Einer, der sich viele Gedanken macht

Auf seine Aussagen folgten ein paar weitere turbulente Wochen in diesem turbulenten Jahr für den Dänen. Philipp Lahm, der Kapitän, verletzte sich, auf dessen Position im Zentrum des Spiels sieht sich Hojbjerg. Der Verein braucht ihn nun dringender als zuvor. Doch Guardiola sagte, dass er niemanden zwingen werde zu bleiben. Hojbjerg spielte nicht gegen Hoffenheim, spielte beeindruckend stark in Manchester, spielte nicht in Berlin, spielte ein paar Sekunden gegen Leverkusen.

 

Seine Chancen auf einen Einsatz an diesem Mittwoch gegen Moskau? Unsicher. Wie im-

mer. Hojbjergs Berater, der ehemalige Bayern-Profi Sören Lerby reiste zu Verhandlungen

nach München. Ohne Ergebnis. Sie werden erneut diskutieren. Über einen jungen Fuß-

baller, der auch weiter ein junger Mann ist. Einer, der sich viele Gedanken macht.

Schlaflos im Bett - Angst um den Vater

In der südspanischen Sommernacht, in allen 14 Nächten dieses Urlaubs vor wenigen Monaten, war Hojbjerg lange wach, er redete mit seiner Familie. Lag schlaflos im Bett. Dachte nach. Und er spürte, wer fehlte. Christian, sein Vater.

 

Hojbjerg hatte sich immer an seinem Vater orientiert, hatte seine Ratschläge gesucht, wenn es ihm schlecht ging. Auch nachdem er nach München um- gezogen war, als 17-

Jähriger, um für den FC Bayern zu spielen. Vater und Sohn planten die Karriere des jungen Fußballers, dachten über jeden weiteren Schritt nach. Bis zu dieser Diagnose im Sommer 2013. Magenkrebs.

 

In Dänemark sagten die Ärzte, dass Christian Hojbjerg ein halbes Jahr zu leben habe, vielleicht ein Jahr. In München saß Pierre-Emile Hojbjerg, verletzt, mit Außenbandproble-

men. Er weinte bei Uli Hoeneß, dem damaligen Präsidenten. Er weinte mit Trainer Guar-

diola. Hoeneß half ihm, Experten für die Behandlung seines Vaters zu organisieren.

 

Die Aussichten wurden besser. Der Sohn wurde ge- sund, spielte, gewann am 25. März die deutsche Meisterschaft. Er feierte aber nicht mit der Mannschaft. Sondern flog zu seinem Vater. „Das Letzte, was er mir gesagt hat, war: ,Jetzt möchten wir dich auch im Länderspiel gegen Schweden sehen. Dann hast du auch dieses Jahr gut gemacht.‘ Dann haben wir gelacht.“

Befreiung: Ein Wechsel

Ende Mai debütierte Hojbjerg in der Nationalelf, er spielte durch. Dänemark besiegte Schweden 1:0. Christian Hojbjerg war einen Monat zuvor gestorben.

 

Der Sohn reagierte auf den Tod, indem er sich noch mehr auf die Karriere konzentrierte, die er mit sei- nem Vater geplant hatte. „Meine Medizin und Therapie war der Fußball.“ Er trainierte länger, gezielter, härter. Lenkte sich von seinen Gedanken ab, indem er einen neuen Schmerz herausforderte. „Sonst wäre ich durchgefallen.“

 

Dann kam der Sommer, die Nächte wurden kürzer, und Hojbjerg wurde trauriger. „Die schwierigsten Momente waren Monate nach dem Tod meines Vaters. Zwei, drei, vier, fünf Monate später. Weil dann kommt der Alltag. Und es kommen die Alltagsprobleme. Schwie

rigkeiten. Situationen, in denen du nicht fest stehst.“ Noch kürzere Nächte, längere Selbstgespräche. Hojbjerg blieb traurig. „Ich habe gelernt, mir zu sagen: So ist das Le-

ben. Ich habe gelernt, dass es manchmal okay ist, dass nicht alles okay ist. Dass es mir nicht okay geht.“

 

Obwohl es ihm nicht okay ging, versuchte Hojbjerg weiter, hart zu trainieren. Doch er spielte fast nicht. Der junge Fußballer scheiterte an der Trauer des jungen Mannes. „Wenn du privat nicht stabil bist, und es wird auch nicht im Fußball stabil, dann sagst du dir: Nichts hängt zusammen. Du kannst nicht das machen, was du liebst – und was dich befreit: am Wochenende 90 Minuten lang zu spielen. Dann fehlt was in dir. Es ist wie mit einem Haus: Es steht da, aber irgendwas fehlt, du weißt nicht was, vielleicht die ganze Basis, vielleicht die Tür. Es ist einfach falsch zusammengesetzt.“ Also beschloss Hojbjerg, dass ihn nur eines befreien könne: ein Wechsel.

„Ich war richtig unten“

Schon früh hatte er gelernt, auf sich selbst zu hören. Sein Vater, ein Professor für Anthro-

pologie, war oft tagelang nicht zu Hause. Auch die Mutter arbeitete. Der junge Pierre-

Emile gestaltete seinen Tag ganz alleine. Der Vater förderte diese Selbständigkeit, er wollte, dass seine Kinder merken, worauf es im Le-ben ankommt: Verantwortung den eigenen Entscheidungen gegenüber. „Mein Vater hat gesagt: ,Ich will dir nicht alles schönreden. Wenn es nicht läuft, dann läuft es nicht.‘ Da war meine Familie sehr direkt. Als Kleiner war das manchmal hart. Aber das hat mich stark gemacht.“ Immer wieder sagte der Vater einen Satz, an den sein Sohn oft denkt: „Wenn du es nicht zu hundert Prozent machst – dann mach’ es nicht. Du machst es nicht für jemand anderen.“

 

Zwölf Jahre später neigte sich der Sommer seinem Ende entgegen, und Hojbjerg ging es immer schlechter. Er schlief kaum, er trainierte schlecht. „Ich war richtig unten.“ Es wurde Herbst. Und der Schmerz im Körper verdrängte nicht mehr die Gedanken. Also konzen-

trierte Hojbjerg sich auch auf die kleinen Dinge des Tages. Er suchte seinen Rhythmus. Trainierte. Regenerierte. Aß gesund. Schlief mehr. Schlief besser. Und er wollte weiter wechseln.

 

In wenigen Tagen wird der Berater Lerby wieder nach München reisen, zur nächsten Ver-

handlungsrunde. Es gibt viele Interessenten, darunter auch Hannover 96. Sie werden diskutieren. Über die Karriere eines jungen Fußballers, der zugleich das schwere Leben eines jungen Mannes lebt.

 

Zeit, die war. Zeit, die kommt. Zeit, die ungenutzt vergeht. An dem Dezembermittag muss Hojbjerg schließlich zur Fahrschule, in der Nähe des FC Bayern, in der Nähe von Hoj-

bjergs Wohnung, er hat sich die Schule selbst ausgesucht. Hojbjerg rennt, der Wind flattert hinterher. Vor der Tür steht der Fahrlehrer, er schaut auf die Uhr, winkt. Die letzten Meter trabt Pierre-Emile Hojbjerg, der Mantel hüllt ihn wieder ein.

2. Preis

Aufgeben gibt‘s nicht

Bestzeit: 100 Kilometer in 8:32 Stunden – Barbara Mallmann läuft erfolgreich gegen ihr Leiden an

Barbara Mallmann hatte ein schweres Asthmaleiden. Heute läuft sie Ultramarathon. Die 43-Jährige aus Ottobrunn trat bei der WM in Katar an. Sie ist jetzt deutsche Vizemei-

sterin und therapiert ihre Lunge auf sehr spezielle Weise. Die Geschichte einer unge-

wöhnlichen Frau.

Bürgermeisterin Christine Strobl gratuliert Katja Kraft. Foto: MARTIN HANGEN

               VON KATJA KRAFT

 

Wäre das hier Hollywood, die Protagonistin würde gespielt von Julia Roberts. Großer Mund, lange braune Haare, leuchtende Augen. Wir würden sie sehen, wie sie sich in ihrem Zimmer versteckt. Weil sie als Asth-

matikerin kaum Luft bekommt, wenn sie draußen herumläuft. Drei Treppenstufen sind schon zu viel für sie. Wir würden sie begleiten in den Jah ren, in denen sie nach einer Mundschleimhaut-Transplantation nicht mehr sprechen kann. Und dann käme die dramatische Wende: Sie würde eine Gleichgesinnte treffen. Bestimmt gespielt von Cameron Diaz. Typ Mitreißerin. Die würde zu unserer Protagonistin sagen: „Komm, wir beiden Asthmati-kerinnen gehen laufen.“ Erst 200 Meter im Schneckentempo, dann fünf Kilometer. Und ganz am Schluss, da sähen wir sie: im Nationaltrikot, in der Wüste in Katar, beim 100-Kilometer-Lauf. Ultramarathon in Bestzeit. Wie im Märchen.

"Nehmen Sie mal Baldrian"

Doch diese Geschichte folgt keinem Drehbuch. Sie ist vom Leben geschrieben. Und sie geht so: Barbara Mallmann, 43 Jahre alt, wie Julia Roberts fast immer lächelnd, leidet seitdem sie 18 ist an Infekt-Asthma. „Ich hab mit einer dicken Bronchitis auf einer Silv-

esterparty meinen ersten Asthmaanfall bekommen“, erzählt sie. Und pflichtbewusst, wie sie ist, meldet sie sich nicht für den nächsten Tag krank, in der Klinik, in der sie ihre Aus-

bildung zur Krankenschwester macht. „Das schickt sich ja nicht, Neujahr nicht zum Dienst zu kommen. Ich bin hingegangen. War nicht so günstig“, sagt sie lakonisch.

 

Die Folge: eine doppelseitige Rippenfellentzündung. Und die heilt einfach nicht ab. Immer hat sie das Gefühl, dass alles zu eng ist, sie zu wenig Luft bekommt. Ein Lungenfacharzt diagnostiziert zwar eine schlechte Lungenfunktion, schiebt das aber auf die Psyche der jungen Frau. „Nehmen sie mal Baldrian, hat er mir geraten.“

 

Ein schlechter Rat für Barbara Mallmann. Denn die – Sternzeichen Widder, Lebensmotto: „Aufgeben gibt’s nicht“ – zieht ihre eigene Konsequenz. Schon damals ist sie ein „Aus-

dauerfreak“, geht täglich schwimmen. Und denkt sich: „Gut, dann musst du mehr schwimmen und deideine Lunge trainieren. Also bin ich jeden Tag 2,5 Kilometer ge-

schwommen“, erzählt sie und lächelt. Diesmal nicht aus Freude, da schwingt auch etwas Scham über so viel Sturheit mit. Das funktioniert noch ein Dreivierteljahr – dann steht sie da, im Krankenhaus beim Dienst, die Lippen blau. Die Stationsärztin nimmt sie auf. Diag-

nose: schwerstes Asthma.

 

Im Film beginnt jetzt das Drama. Im echten Leben leider auch. Immer wieder steckt sich Mallmann – damals Anfang 20 – an, bekommt immer neue Anfälle. Sie entwickelt eine Kortison-Resistenz. Steht einmal 20 Wochen am Stück einen Anfall durch. Jede Nacht sitzt sie keuchend auf der Bett- kante – „wie Omma 80“. Mit 22 ist sie Frührentnerin.

„Ich war mit 25 wie ein Wrack“

Fachärzte in Davos finden dann eine Lösung, die zumindest eine vorübergehende Linde-

rung bringt: Ab jetzt bekommt sie das Vierfache der Kortison-Dosis, täglich 40 Milligramm. „Dadurch ging es mir zumindest luftmäßig besser. Dafür haben die Nebenwirkungen voll zugeschlagen.“ Wasserablagerungen, Gewichtszunahme, Knochendichte einer 75-Jähri-

gen, ausgeprägte Rechtsherzbelastung, ein Ruhepuls von 100. Heute sagt sie: „Ich war mit 25 wie ein Wrack.“

 

Bevor das Happy End kommt, braucht es aber noch einen Höhepunkt des Dramas. Diese Klimax ist für Barbara Mallmann 1999 erreicht: Sie hat Geschwüre an den Stimmbändern. 2000 wird ihr Mundschleimhaut transplantiert. Sie kann zwei Jahre lang nicht mehr spre-

chen. Das absolute Grauen.

 

Doch von nun an geht’s voran. Denn Mallmann trifft in der Reha, in der sie wieder reden lernen soll, eine andere Asthmatikerin. Die überredet sie zu laufen. Wie im Film. Die Otto-

brunnerin sagt: „In dem Moment im August 2000 hat das Leben für mich neu angefangen. Das kann ich dem Laufen verdanken.“

 

Jetzt bräuchte es einen Soundtrack, der das, was folgt, hymnenartig untermalt. Barbara Mallmann beginnt zu laufen. Erst zaghaft. „Das wäre für andere schnelles Gehen.“ Doch nach fünf Wochen, da wird aus dem Gehen eine langsame Laufbewegung. Fünf Kilo-

meter am Stück, Minuten-Schnitt auf einem Kilometer: neun. Im Dezember 2000 dann Teilnahme am Silvesterlauf, 15 Kilometer am Stück, Minuten-Schnitt auf einem Kilometer: unter fünf. Da hat sie gerade drei Monate lang trainiert.

Keine Nebenwirkungen, nur Sprinten geht nicht

Die gebürtige Westfälin will mehr. Bereitet sich mit einer Laufgruppe in Ahlen in der Nähe von Münster auf das nächste Ziel vor: Marathon. Sie läuft ihn schon 2001 in Hamburg, ein halbes Jahr nach Trainingsbeginn – in 3:36 Stunden. Die Zeiten hat die 43-Jährige alle im Kopf. Sie gibt nicht an damit. Wenn sie sie ausspricht, dann ist da ganz viel Freu-

de – und auch ein bisschen Spaß daran, ihr Gegenüber zu verblüffen. Doch das „Genial-

ste“ sei noch etwas anderes: „Dank des regelmäßigen Laufens konnte ich nach und nach mein Kortison reduzieren. Seit 2010 muss ich keins mehr nehmen. Auch alle ande-

ren Medikamente konnte ich absetzen“ Durch die kontinuierliche Bewegung hat sie ihr Herz trainiert, durch die viele Zeit an der frischen Luft hat sich ihre Infekt-Anfälligkeit gen Null bewegt.

 

Die Nebenwirkungen des jahrelangen Kortison-Spritzens, sie sind verflogen. Sprinten kann sie nach wie vor nicht, das gibt ihre Luft nicht her. Und so hat sich diese ehrgeizige Frau eine andere Disziplin gesucht, bei der sie alles geben kann: Sie läuft seit vielen Jahren Ultramarathon. 100 Kilometer. 15 Mal bereits. Ihren ersten Hunderter meistert sie in 11:21 Stunden. Heute schafft sie ihn in 8:32.

 

Die einstige Asthmatikerin ist jetzt deutsche Vize- meisterin. Seit 2006 startet sie auch international. Unlängst bei der Weltmeisterschaft im Ultramarathon in Katar. „Das war schon sehr speziell“, sagt sie und lacht. Prunk, Vögelgezwitscher aus Lautsprechern, jede Palme künstlich bewässert. „Doch bei aller Kritik: Ich hatte die Chance, für Deutschland bei den Weltmeisterschaften zu starten und da hab’ ich gesagt: Das mach ich.“

Unterwegs eine Akkupunktur-Magennadel

Fünf Männer und vier Frauen sind sie in ihrem Team. Zu neunt beißen sie sich durch. „Wir hatten alle mit Magenproblemen zu kämpfen. Bei mir setzten sie ab Kilometer 30 massivst ein“, erinnert sie sich. „Das sind halt 70 lange Kilometer, die du dann noch vor dir hast.“

 

Doch ihr Mann, selbst ehemaliger Profi-Leichtathlet, und die Team-Betreuer stehen an der Strecke und feuern sie an. „Bei Kilometer 50 gingen mir dann schon die Bordsteine entgegen. Ich hab’ gedacht: Das schaffst du jetzt vielleicht irgendwie doch nicht mehr.“ Der Widder in ihr kämpft weiter. Sie trinkt eine Cola, eine Betreuerin verabreicht ihr eine Akkupunktur-Magennadel. „Mir war egal,wie – ich musste halt alles probieren.“

 

Es gelingt. Zwar deutlich langsamer – pro Kilometer eine Dreiviertelminute mehr als ge-

plant – doch geschafft. Nach 9:15 Stunden kommt sie erleichtert ins Ziel. „Es war zwar keine WM-Platzierung in der Schnelligkeit, aber im Kampfgeist. Die komplette deutsche Mannschaft hat sich durchgebissen.“ Aufgeben gibt’s nicht. Mallmann wird 30. von den 65 Frauen und Zweitbeste in der deutschen Mannnschaft.

 

Ja, sie ist stolz auf all das. Sie lebt ein völlig neues Leben. „Ich habe jetzt einen Ruhepuls von 39, neh- me keine Medikamente mehr. Und mein Herz hat sich von der Rechtsherz-

belastung zurückentwickelt.“ Sechs Tage die Woche läuft sie. Teils in Laufgruppen, teils allein. Jeden Samstag 60, sonn- tags nochmal 30 Kilometer. Donnerstagmorgens allwö-

chentlich der „lockere“ Regenerationslauf von zehn Kilometern. „Der gehört dazu wie das Zähneputzen.“

Unsichtbare Papierkörbe für den seelischen Abfall

Hauptberuflich leitet sie den ambulanten Hospiz- und Palliativ-Beratungsdienst in Otto-

brunn, arbeitet viel abends, auch am Wochenende. Ihre Laufeinheiten plant sie zwischen der Arbeit ein. „Für mich ist das der totale Ausgleich zu meinem Beruf. Wenn ich von Pa-

tienten komme, wo es oft auch emotional belastend ist, dann ist das Laufen die beste Art, runterzukommen.“ Sie platziert dann unsichtbare Papierkörbe an der Strecke, in die sie das, was sie belastet, einfach hineinwirft. Kilometer für Kilometer.

 

Und endlich kann sie etwas genießen, das ihr jahrelang verwehrt war: den Wechsel der Jahreszeiten. „Ende August merkst du schon, es wird jetzt Herbst. Und im Januar kommt bereits ein Geruch von Frühling. Das ist einfach schön“, sagt sie. „Weil ich das früher nicht so erleben konnte. Ich war ja mit dem reinen Überleben beschäftigt.“

 

In diesem Jahr hat sie 5000 Kilometer zurückgelegt. Ist das denn noch gesund? „Da streiten sich die Geister. Für mich persönlich kann ich sagen: Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal Antibiotikum nehmen musste oder wann ich das letzte Mal eine Grippe hatte. In den mittlerweile 14 Jahren hatte ich einmal für drei Monate eine Knochenhaut-

entzündung im Oberschenkelknochen – und das war’s. So schlecht kann es also nicht sein.“

 

Im April bei der Deutschen Meisterschaft will sie wie- der starten. Und bei der WM in Hol-

land im September. So lange sie die Qualifikationszeiten schafft, macht sie weiter. „So-

lange ich laufen kann, werde ich das machen, aber ich werde nicht gegen meinen Körper laufen“, betont sie. „Ich habe gelernt, mit meiner Lunge zu trainieren und nicht gegen sie.“

 

Von einer, der die Puste ausging, zur WM-Teilnehmerin im Dauerlauf – das ist Barbara Mallmanns filmreife Geschichte. Die Freude darüber spürt sie immer: „Jedes Mal, wenn ich meine Laufschuhe anziehe, bin ich dankbar.“ Jeden Tag.

3. Preis

Pädagogin im Mückenschwarm

Eine Frau bricht in die von Männern dominierte Welt der Fußball-Spielerberatung ein

Das Beratergeschäft ist eine Arena für große Egos. Petra Steinhöfer ist darin eine Aus-

nahme: Sie will ihre Spieler nicht um jeden Preis in den Profifußball schicken.

Sebastian Fischer, Bürgermeisterin Christine Strobl.

                   VON SEBASTIAN FISCHER

 

Für Markus Steinhöfer war es nur ein Bänderriss. Er kostete ihn die Teilnahme am Halbfinale der U19-

Europameisterschaft in Nordirland, nach einem Schlag auf das linke Sprunggelenk im letzten Grup-

penspiel flog er nach Hause. Dann verpasste er ein paar Spiele für die zweite Mannschaft des FC Bayern München, er verpasste später auch den Sprung in den Profikader. Doch wenn sich Markus Steinhöfer, 29, an diese Tage im Sommer 2005 erinnern soll, gelingt es ihm kaum. Er wurde ja doch ein erfolgreicher Fußballprofi, spielte in Salzburg, Basel, Frankfurt, Sevilla und jetzt beim TSV 1860 München. Die Verletzung damals als Jugendlicher, acht Wochen Zwangspause, Hadern mit dem Schicksal, Zweifel an der Karriere: „Solche Dinge passieren halt“, sagt er.

Der mütterliche Instinkt

Petra Steinhöfer erinnert sich an diese acht Wochen allerdings genau. Ihr Sohn wollte sich nicht anmer- ken lassen, dass er darunter litt, plötzlich allein gelassen zu sein vom Fußballgeschäft, das ihn sonst so umsorgte. Doch ihr mütterlicher Instinkt sagte, dass Markus gerade jetzt seinen Spielerberater bräuchte: jemanden mit Erfahrung, der ihn aufmuntern könnte. Doch von dem Berater, der Markus Steinhöfer damals betreute, kam nichts. Und Petra Steinhöfer dachte sich: Ich würde das ganz anders machen.

 

Neun Jahre später sitzt Petra Steinhöfer, 55, akkurater Pagenschnitt, Baumwollblazer, in einem Café in München-Bogenhausen, die letzten Sommersonnenstrahlen lassen einen Anhänger an ihrer Hals- kette silbern glitzern. Sie lächelt freundlich und spricht leise, aber überzeugt. Sie erzählt von ihrem Beruf. Steinhöfer kümmert sich um junge Fußballer und deren Familien. Sie ist Spielerberaterin mit pä- dagogischem Auftrag. „Tutor. Karrierebegleitung“, heißt ihre Agentur.

Kein Platz für die Probleme der Gescheiterten

Im Fußballgeschäft geht es um viel Geld; manchmal um so viel, dass der Mensch in den Hintergrund rückt, auch wenn der Mensch noch ein Kind ist. Es gibt vielleicht keine Bran-

che, die das anschaulicher zeigt als die der Spielerberater, die um die Gunst junger Tal-

ente buhlen – oft um Kinder – und sich somit in einer rechtlichen Grauzone bewegen, damit sie später an Vertragsabschlüssen derer verdienen, die es bis in die hochbezahlten Profiligen schaffen. Für die Probleme jener, die scheitern, die unterwegs zweifeln, ist kein Platz.

 

Petra Steinhöfer möchte anders sein als die meisten Berater, nicht nur weil sie als Frau die große Aus- nahme ist in einer Männerdomäne. Sie will den Problemen Platz geben, sie ansprechen und lösen. Sie will, dass ihre Spieler einen Schulabschluss machen, dass sie lernen, in Eigenverantwortung zu leben. Und dass sie darauf vorbereitet sind, möglicherweise kein Profifußballer zu werden. „Ich möchte verhindern, dass die Jugend-

lichen mit 18 Jahren völlig kaputt sind“, sagt sie. Während viele Berater 20 bis 40 Spieler in ihrem Portfolio führen, betreut sie fünf Jugendfußballer.

 

Steinhöfers Referenz ist ihre Erfahrung als Mutter von einer Tochter und zwei Söhnen, die ihre Jugend auf dem Fußballplatz verbrachten, in den Jugendakademien des 1. FC Nürnberg und des FC Bayern – Markus wurde Profi, Thomas Architekt, Antonia studiert. Petra Steinhöfer spielte früher selbst, Links- außen, als Frauenfußball noch eine Rand-

erscheinung war. Sie arbeitete als Sekretärin, gründete einen Laden für Kunstgewerbe, doch vor allem war sie für ihre Kinder da.

Kein Profivertrag, kaum Geld verdient

Viele Eltern seien „naiv und beseelt von dem Gedanken, dass ihr Kind talentiert ist“, sagt Steinhöfer. Sie sieht es als ihre Aufgabe, sie zu bremsen und ihnen vieles abzunehmen. Sie organisiert Experten, die mit den Jugendlichen sprechen, Ex-Fußballer, Psychologen. Vor ein paar Wochen hielt sie vor Spielern und Eltern ein Seminar über die Verlockung von Sportwetten und wie man ihr widersteht. Mit einem Spieler war sie einen Nachmittag lang beim Einwohnermeldeamt. „Ich bin dafür, dass man den Weg geht, wenn man meint, der Junge könnte das paacken“, sagt Steinhöfer: „Aber ohne Hilfe schafft das keine Familie.“

 

Mehr als 400 lizenzierte Spielerberater gibt es in Deutschland, die wenigsten von ihnen interpretieren ihre Aufgabe so wie Steinhöfer. Aber das könne man ihnen nicht vorwerfen, sagt Gregor Reiter, Ggeschäftsführer der Spielerberatergewerkschaft DFVV. Den Ansatz einer fürsorglichen Betreuung fände er gut. Doch die meisten Berater würden sich eben an die Situation auf dem Markt anpassen. Dort ist am besten aufgestellt, wer möglichst viele Spieler betreut und seine Zeit mit der Vorbereitung und Aushandlung von Verträgen verbringt. Und Petra Steinhöfer hat ein Problem: In vier Jahren ald Spielerberaterin hat keiner ihrer Spieler einen Profivertrag unterschrieben. Bislang hat sie nur investiert und kaum Geld verdient.

"Ich mache dich zum Nationalspieler"

Zum Ende der vergangenen Saison stand sie kurz vor ihrem ersten Vertragsabschluss. Seit der C-Jugend hatte sie Marius Wolf betreut, heute Stürmer bei der zweiten Mann-

schaft des TSV 1860 München. Doch kurz vor der Unterschrift wechselte er den Berater, erzählt Steinhöfer, ihr freundliches Lächeln schwindet aus ihrem Gesicht. „Das hat mich sehr enttäuscht“, sagt sie.

 

Plötzlich seien die Berater wie die Mückenschwärme gekommen, hätten Wolf zum Essen eingeladen und Versprechungen gemacht: „Ich mache dich zum Nationalspieler“, habe einer gesagt. Steinhöfer schüttelt den Kopf. Insgesamt sind ihr bereits vier Spieler abge-

sprungen.

 

Wolfs neuer Berater ist Egon Flad, ein ehemaliger Bundesligaspieler. Er ist überrascht, als er angeru fen und zum Wechsel von Marius Wolf gefragt wird. „Das ist ein ganz ge-

wöhnlicher Vorgang“, sagt er nur. Sind Steinhöfers Mühen am Ende umsonst? Müssen Jugendliche, ja wollen sie gar nicht geschützt werden vor den harten Regeln des Ge-

schäfts, in dem sie sich beweisen wollen? Gibt es keine Nische für eine Spielerberaterin, die ihre Klienten nicht um jeden Preis in den Profifußball schicken möchte?

Kerstin Lasogga ist gefürchtet

Doch, sagt Petra Steinhöfer. Von Funktionären und Trainern bekomme sie positives Feedback. „Sie macht den Eindruck, dass sie sich sehr bemüht, sehr viel außerhalb des Sports unterstützt, das macht sie sicherlich gut“, sagt Wolfgang Schellenberg, Jugend-

leiter des TSV 1860 München. Doch Pauschalurteile seien schwierig: Dem einen Spieler sei enger Kontakt wichtig, „der andere sagt: Ich will meine Ruhe haben.“

 

Einer von Steinhöfers Spielern ist Fotios Katidis, 17, Mittelfeldspieler in der U19 der Münchner Löwen. Er habe noch nie an einen Beraterwechsel gedacht, sagt er. Einem der Spieler, die Steinhöfer verließen, war es am Ende peinlich gewesen, von einer Frau beraten zu werden. Katidis kann das nicht verstehen, er sagt: „Die Petra kennt sich im Fußball gut aus.“

 

Zurzeit gibt es in Deutschland einen Profifußballer, der offiziell von einer Frau beraten wird, den HSV-Stürmer Pierre-Michel Lasogga, von seiner Mutter Kerstin. Steinhöfer hat einen Artikel mitgebracht, sie legt ihn zum Ende des Gesprächs auf den Tisch. Auf dem Foto ist Kerstin Lasogga zu sehen, mit Sonnenbrille und blondem Irokesenschnitt. In Vertragsverhandlungen sei sie gefürchtet, heißt es. Petra Steinhöfer lacht und sagt: „Ich bin eine andere Type.“


Das Beratergeschäft ist eine Arena für große Egos, für Irokesenfrisuren, nicht für Pagen-

schnitte. Es geht um Profit, nicht um Fürsorge. Doch die Szene würde sich wandeln, sagt Gregor Reiter von der Spielerbe- werkschaft. Ab April 2015 ist das ohnehin kaum ange- wandte Fifa-Reglement für Spielerberater hinfällig. Dann ist es Sache der nationalen Ver-

bände, Regeln aufzustellen. Reiter sagt, es werde unter anderem diskutiert, ob bald eine Sonderqualifikation benötigt wird, um Minderjährige beraten zu können.  

 

Es klingt nach einer Chance für die anderen Typen unter den Spielerberatern. Es klingt nach einer Chance für Petra Steinhöfer.

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Von Wolfgang Uhrig

"Thailand unter der Haut"

Bernd Linnhoff, geboren 1948 in Hamm/Westfalen, arbeitete als Chefreporter Fußball beim Sportinformationsdienst (SID) und bei der Deutschen Presse-Agentur (dpa). 1988 machte er sich als freier Journalist, Kom-munikationsberater und Reden-schreiber selbstständig. Linnhoff wanderte 2008 nach Thailand aus. Er lebte vier Jahre in Bankok und wohnt seit 2012 in Chiang Mai

Linnhoff über sein Buch: „In „Thailand unter der Haut“ erzähle ich in 31 Nahaufnahmen von Thailands Ess-Klasse, der Fuß-ball-Community der German All Stars, von Männern in Bangkoks Nächten, von Frauen auch und davon, wie ich schlank wurde auf dem Rücksitz eines Motorrad-taxis. Es geht um Geister, den Zusammenprall zweier Kulturen in meiner Ehe mit Toey, um thailän-dische Spitznamen („Gestatten, mein Name ist Frankfurt“) und vieles mehr. Ich verschweige nicht einmal, dass ich hier lung genannt werde, alter Onkel.“

„Thailand unter der Haut“ ist 240 Seiten stark und kostet 14,90 Euro plus Versandkosten. Es ist im Onlineshop meines Verlegers Oliver Wurm unter folgendem Link erhältlich: www.fussballgold.de

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Als Gerd Müller zurücktrat        Als Beckenbauer nachtrat

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